Das Timing könnte kaum schlechter sein. Über Nacht ist aus den Tropfen ein Dauerregen geworden. Die White Mountains sind unter einer Wolkendecke begraben, und wenn der Mount Washington, mit seinen 1917 Metern der höchste Berg in New Hampshire wie auch den Neuengland-Staaten, irgendwo dort draußen sein soll, dann muss man das halt einfach glauben. Zu sehen ist wenig bis gar nichts. Jedenfalls nicht von diesem oder anderen Bergen. Aber die Natur spielt nach ihren eigenen Regeln. Rücksicht nehmen auf Touristen, die denken: Indian Summer, das klingt doch nach einer launigen Tour, pardon Radtour? Vergiss es. Immerhin: Das Laub ist bunt und bringt Farbe ins Grau.
Es hätte freilich auch noch schlimmer kommen können. Wie zehn Tage zuvor, als der Pilot während des Anflugs auf Boston etwas von schlechtem Wetter tagsüber erzählte, das nun aber besser geworden sei. Was heißen sollte, dass es aufgehört hatte zu regnen. Und dann, im Bus, als der Fahrer ankündigte, die Fahrt nach Portland, Maine, würde rund zwei Stunden dauern, er könne das aber wegen möglicher Überflutungen nicht garantieren, träumte ich lieber von Herbstlaubfarben. Indian Summer von seiner besten Seite, das wollte ich haben. Nicht von seiner feuchten und ungemütlichen.
Tag eins nach dem Weltuntergang
Was also am Tag meiner Anreise passiert war, das sollte ich erst am nächsten Vormittag vergegenwärtigen. Eine Mitarbeiterin in einem Outdoor Shop in Portland zeigte mir ein Foto, aufgenommen quasi vor der Eingangstür. Kurz gesagt: Die Straße stand komplett unter Wasser, Autos waren zur Hälfte untergetaucht. Und so soll es an weiten Teilen der Küste von Maine ausgesehen haben. Radfahren gegen den Strom? Oder im Strom? Es wäre wohl ein kurzer Trip geworden. Womöglich hätte mein Fahrrad schon nach wenigen Meilen seinen Dienst quittiert. Und zwar für immer.
Gut, Überraschungen gehören zu einer Reise dazu. Die guten und die schlechten. Portland zum Beispiel. Da stehe ich doch plötzlich vor einem Zaun voller Liebesschlösser. Der Trend ist offensichtlich auch hier angekommen. Aber dass ein paar Meter entfernt ein Stück der ehemaligen Berliner Mauer steht, empfinde ich dann doch als ebenso kurios wie Must-do-Foto. Ist aber, wie ich später herausfinde, keine Seltenheit, dass irgendwo in der Welt Mauerreste zu finden sind.
Auf den Cadillac Mountain
Am vierten Tag meiner Tour erreiche in den Acadia National Park. Es ist zugleich der 4. Oktober – und so richtig bunt ist es auf der Strecke nur hier und dort gewesen. Umso prächtiger sind die Sonnenuntergänge, die ich vom KOA Campingplatz direkt hinter dem Parkeingang aus betrachten kann. Ich radele den Cadillac Mountain hinauf, stelle fest, dass die Aussicht wirklich schön ist, folge der Parkroute, die, wie ich finde, ein Paradies fürs Rennradfahren ist, um dann am sechsten Tag auf dem Weg aus Ellsworth hinaus zu leiden: Der Seitenstreifen ist miserabel. Freundlich ausgedrückt. Überhaupt soll es eine weniger schöne Etappe werden, die nach 130 Kilometern endet, in der Dunkelheit – und in einem Motel an der Strecke nach Newport. Erst habe ich den Stetson Campground nicht gefunden, dann musste ich feststellen, dass er bereits seit zwei Wochen geschlossen hat. Hätte ich meiner Broschüre entnehmen können, dass hier Ende September Schluss ist. Oder auf der Internetseite. Habe ich aber nicht.
Dann ist da noch die Sache mit den Hunden tags darauf. Solange sie nur bellen und angeleint sind, ist alles gut. Nicht gut ist, wenn es sich um einen Kampfhund handelt, der nicht angeleint ist und den Highway auch nicht als Grenze zwischen ihm und mir ansieht. Warum er nach einem kurzen Sprint die Lust verliert, ist mir egal. Hauptsache, ich kann meine Flucht abbrechen.
Windgepeitschter Mount Washington
Nach einer Woche überquere ich die Grenze von Maine zu New Hampshire. Wie schön, der Himmel ist blau, Sonne satt. Das Wetter hält aber nicht, es kommt zur Regenschlacht rund um den Mount Washington. Im Café des Visitor Center klammere ich mich an eine heiße Tasse Kaffee, genieße das Gefühl neuer und vor allem trockener Socken an den Füßen und starre Richtung Berg. Oder vielmehr: Dorthin, wo der Berg vermutlich steht, mit 1917 Metern die Nummer eins im Nordosten. Ich hätte natürlich auch mit einem Shuttlebus auf den Gipfel fahren können. Die Aussicht soll toll sein, wenn es denn was zu sehen gibt. Aber eigentlich ist der Mount Washington berühmt für die Stürme, die dort oben manchmal toben. Im Jahr 1934 wurden als höchste mittlere Windgeschwindigkeit (10-Minuten-Mittel) 372 km/h gemessen. Die stärkste Böe pfiff mit 416 km/h über die Bergspitze. Während eines Tornados im Jahr 1999 zeigte ein Messgerät sogar 512 km/h an, allerdings spielte sich das Drama in Oklahoma City ab.
Wetterwechsel: Am nächsten Tag kämpft sich die Sonne durch – und ich mich den Kancamagus Highway entlang – und hinauf. Es ist das Columbus Day Weekend. Danach ist die Saison für die US-Amerikaner und die Kanadier vorbei. Also sind sie noch einmal in Massen unterwegs. Autos, Autos und noch einmal Autos. Ich halte an einer Covered Bridge, den Lower River Falls, der Rocky Gorge. Die Etappe ist mit 62 Kilometern recht kurz, aber auch kurze Etappen können lang werden, wenn es viel zu sehen gibt und man ständig hält. Und es gibt viel zu sehen. Gilt nicht nur für die Landschaft übrigens. Auf der gesamten Strecke seit Maine ist fast jeder Vorgarten dekoriert. Halloween lässt grüßen. Sieht alles ziemlich schräg aus, was da so an Kulisse zu sehen ist. Kürbisse, Hexen, Gespenster. Einmal sitzt sogar ein Skelett auf einem Trecker. Haha. In der Rocky Gorge ist es allerdings der Wasserfall, dem ich eine halbe Stunde Zeit opfere.
Unterwegs am Columbus Day Weekend
Als ich später im Visitor Center von Lincoln nach dem Hostel in dem Ort frage, ist die Dame am Tresen so freundlich, in der Unterkunft anzurufen, um nach einem freien Bett zu fragen. Leider kann sie sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen, als sie in den Hörer spricht: „Hier ist jemand, der offenbar nicht weiß, was bei uns am Columbus Weekend los ist.“ Weiß ich doch, gefühlt habe ich nämlich kurz zuvor binnen zehn Minuten 200 Autos überholt, die alle auf der Hauptstraße im Stau standen. Natürlich gibt es kein freies Bett in dem Hostel, aber sie nennt mir einen Campingplatz in North Woodstock. Der Ort ist lediglich eine Meile entfernt. Klasse, ich muss auch nur 10 US-Dollar bezahlen für eine Nacht. So billig bin ich noch nicht unterkommen – und werde es auch nicht mehr auf dieser Reise. Und es wird auch das einzige Mal auf der ganzen Tour sein, dass ich höre: „Nehmen Sie kein Essen mit ins Zelt. Wir haben hier ab und an Bären.“ Aber gut, so oft habe ich dann auch nicht gezeltet.
- Tag: Ich bin in den Adirondacks angekommen. Im Keene Valley brennt die Natur ein Feuerwerk an Farben ab. Anhalten, gucken, wieder anhalten, noch länger gucken. Indian Summer von seiner besten Seite. Allerdings wird das Wetter auf dem Weg hinauf nach Lake Placid deutlich schlechter. In dem Ort, der 1932 und 1980 Ausrichter der Olympischen Winterspiele war, höre ich, dass es in drei Tagen den ersten Schneefall geben soll. Die Lust aufs Radeln geht so schnell flöten wie Luft aus dem Loch eines Reifens entweicht. In der Tourist Information frage ich nach einem Bus. Die Frau zieht ihre Brauen hoch. Antwort: „Gibt es nicht. Wir sind hier in den Bergen.“ Am nächsten Morgen drehe ich, obwohl der Himmel knallblau ist, um und spare mir eine Rundtour über Indian Lake. Stattdessen fahre ich über Elizabethtown und Westport und dann entlang am Lake Champlain bis nach Ticonderoga – und von dort am letzten Tag Richtung Lake George.
Wetterumschwung in den Adirondacks
Schöner wird es auf der Schlussetappe nicht. Schmale Straße, wenig Sightseeing. Lake George aber hat – abgesehen von wenigstens drei Minigolfanlagen – wenigstens eine Besonderheit zu bieten, deren Ursache womöglich ist, dass nicht wenige Einwohner in Lake George englische Vorfahren haben. Und da die Briten schließlich bekannt sind für ihren schwarzen Humor, befindet sich auf einem ehemaligen Schlachtfeld ein Campingplatz, in diesem Fall der Battleground State Campground in Nähe des am südlichen Ende des Sees gelegen Fort William Henry. Zyniker würden vermutlich Freunden schreiben: „Auf diesem Campingplatz herrscht Grabesstille“. Oder auch: „Hier kann total gut entspannen, denn es ist totenstill“. Wunschdenken freilich, denn die Hauptstraße verläuft gleich nebenan. Ist aber auch egal, denn der Platz hat geschlossen. Nachsaison halt, weshalb sogar das McDonald-Restaurant im Stadtzentrum dicht ist.
Die Kämpfe auf besagtem Schlachtfeld haben sich vor über 200 Jahren abgespielt. Zwischen 1755 und 1757 bekämpften sich die Briten auf der einen und die Franzosen, Kanadier wie Indianer auf der anderen Seite, und die größte Auseinandersetzung fand 8. September 1755 statt. Am Ende des Tages hatten die Briten die Oberhand behalten, obwohl es anfangs ziemlich schlecht um sie stand. Wäre die Geschichte anders ausgegangen, der Campingplatz würde jetzt womöglich Terrain de Camping Roi Louis heißen. Frei übersetzt nach Google. Oder gar nicht existieren, weil die Franzosen lieber einen ehrwürdigen Park samt Gedenkstein angelegt hätten.
Aber nun findet sich hier eben der Battleground State Campground – so etwas wie eine Oase der Ruhe. Wenn man so will. Lake George selbst ist Ausgangsort für Touren in die Adirondack Mountains oder auf dem Lake George selbst. Ausflugsboote, Hotels, Motels, Restaurants, Souvenirgeschäfte, Cafés, das historische Fort William Henry, ein Wachsfigurenkabinett und ein großes Wasserrutschen-Bad finden sich hier. Der American Way of Life in Sachen Urlaub halt.
Meinen beende ich nach 16 Tagen auf dem Rad, 1400 Kilometern und rund 14.500 Höhenmetern mit einem zweitägigen Aufenthalt in einem Motel. Tatsächlich haben einige Unterkünfte doch noch geöffnet. Danach geht es per Bus zurück nach Boston. Statt buntem Laub noch ein bisschen buntes Stadtleben genießen.
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